Die Überraschung erwähnen wir zuerst. Ihr habt nicht falsch gelesen. Es gibt tatsächlich einen Küstenweg in Rheinhessen. Schließlich war das Mainzer Becken einst von einem subtropischen Meer überflutet. Das ist zwar schon 30 Millionen Jahre her, doch zahlreiche Gesteins- und Fossilienfunde zeugen noch heute von einer artenreichen Unterwasserwelt.
Die Wege der Natur sind zwar nicht unergründlich, aber auch nicht minder faszinierend. Dort, wo heute der Wein wächst, tummelten sich früher Haie, Rochen und Seekühe. Der Küstenweg bei Alzey-Weinheim lädt zu einer Wanderung durch die Weinberge ein – mit einer spannenden Zeitreise in die urgeschichtliche Vergangenheit. On top: wunderschöne Ausblicke über das rheinhessische Hügelland.
Die Weinheimer Bucht
Los geht’s: Der Ausgangspunkt der Wanderung liegt an der Hauptstraße von Weinheim. Der Ort, der einst eigenständig war, ist inzwischen der größte Stadtteil von Alzey. Und wer sich ab hier auf den Weg macht, braucht sich nicht zu sorgen.
Orientierung ist easy: Man folgt der Küstenweg-Beschilderung in Richtung Ortsrand und biegt schließlich in die Weinberge ab. Die kleine Kapelle des Weinguts Heiligenblut aus dem 18. Jahrhundert begrüßt die Wanderer auf dem Küstenweg.
Ein triftiger Meeresgrund
Das erste Naturdenkmal der Wanderung liegt am Ostende der Weinheimer Bucht und ist nicht zu übersehen. Die Trift ist eine ehemalige Sandgrube, die sich meterhoch vor den Wanderern aufbaut. Die weltberühmte geologische Stätte ist ein hervorragend erhaltener Querschnitt durch den urzeitlichen Meeresboden. Im Gestein kann man selbst bei der Entfernung Muscheln erkennen.
Von der Hölle und der Kirche
Niemand hat gesagt, dass es nicht auch ein bisschen anstrengend wird. An diesem Punkt sind wir gerade. Es geht bergauf, mitten durch die pittoreske rheinhessische Hügellandschaft. Zu beiden Seiten säumen Rebstöcke den Weg, Schließlich hat der Weinbau in Weinheim eine sehr lange Tradition. Tatsächlich wurde er bereits im 8. Jahrhundert zum ersten Mal urkundlich erwähnt.
Die Weinlagen des Ortes tragen theatralische Namen. Mit den vorwiegend nach Süden geneigten Hängen der „Hölle“ oder des „Heiligen Blutbergs“ sind die Voraussetzungen für einen guten Tropfen exzellent.
Und zwischen der Traube wohnt der Glaube. Europas erste Weinkirche steht seit 2009 in Alzey-Weinheim und ist ein geweihtes Gotteshaus aus Weinreben, die von einem filigranen, fünf Meter hohen Bambusgerüst getragen werden.
Die Welt ist meine Auster
Der nächste Abschnitt führt unterhalb des Steppenwäldchens „Auf dem Groß“ gen Westen. Traumhafte Ausblicke übers Rebenmeer belohnen die Anstrengung.
Dann wird es plötzlich richtig spannend. Nach mehreren gemütlichen Kilometern erreicht man die Sandgrube Zeilstück am Nordwest-Ende der Weinheimer Bucht. Sie ist das zweite bedeutende Naturdenkmal des Rundwegs.
Eine Aussichtsplattform gewährt einen guten Einblick in das geschützte Geotop. Die Sandsteinfelsen wurden durch die Urmeer-Brandung ausgehöhlt. Hier hat man besonders viele Austern gefunden und spricht deshalb auch vom Austernpflaster.
Eine Liege mit Meerblick
Das macht hungrig, oder? Der perfekte Picknickplatz ist einen Anstieg entfernt. Mitten auf dem Hügel, westlich von Alzey-Weinheim, wirft eine kleine Ansammlung von Bäumen kühlenden Schatten.
Die perfekt platzierten Wanderliegen sorgen für gemütliche Ruhe, den idealen Ort für eine Käsestulle mit grandioser Fernsicht über die rheinhessische Hügellandschaft. Jetzt bedarf es nur noch ein bisschen Fantasie, um sich die einstige Meeresbucht zu seinen Füßen vorzustellen.
Der Haifisch, der hat Zähne
Kurz vorm Ende des Rundwegs wartet das dritte bedeutende Naturdenkmal auf die Wanderer. An der Neumühle wurden besonders viele Haifischzähne gefunden; insgesamt konnten hier mehr als 20 Hai- und Rochenarten, zahlreiche Knochenfische und Seekühe sowie eine bis dahin gänzlich unbekannte Meeresschildkröte nachgewiesen werden.
Das wiederum gibt genug Gesprächsstoff für die letzten Meter. Wer hätte das gedacht. Meerestierfossilien mitten in Rheinhessen.