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Aussicht vom Brocken im Harz im Herbst
dugdax/Shutterstock.com

Den Harz überwunden

Text
Thorsten Brönner

Wie ein Wolkenfänger ragt der Harz aus dem Norddeutschen Tiefland. Im Oktober lodern die dichten Bergwälder. Darin verbergen sich Relikte aus mehreren Epochen. Mit Volldampf durch die Märchenkulisse im Harz wandern, von Welterbe zu Welterbe.

Waldweg im Harz mit Holz an der Seite
Marina Reich

Ein Forstweg irgendwo am Rand des Oberharzes. Der Regen fällt wie in einer voll aufgedrehten Dusche vom mausgrauen Himmel, doch ich bin im Flow. Wie verhext treten die Beine von alleine. Körper und Geist sind eins. Dick in Regenklamotten eingepackt folge ich seit einer Stunde berauscht einem ansteigenden Bahntrassenradweg. Schotter und Schmutz verkleben die Reifen. Egal – es läuft. Stille. Nichts stört. Keine Autos. Wie in Trance spähe ich unter der Kapuze in den dampfenden Wald. Sicht vielleicht 100 Meter. Rechts Fichten und grün-gelbe Buchen, links Fichten und grün-gelbe Buchen.

Geteilter Wald

Heute am dritten Oktober feiert Deutschland die Wiedervereinigung. 29 Jahre ist diese her. Zwischen 1957 und 1990 war der Harz geteilt. Wer im Wald genau hinsieht, der erkennt die Spuren. Gestern in Thüringen gestartet. Heute Niedersachsen, morgen Sachsen-Anhalt. Durch den Harz und drumherum zieht sich ein Netz aus Routen. Für die Täler, Hochflächen und Fachwerkstädten nehme ich mir eine Woche Zeit. Goslar, Ilsenburg, Wernigerode, Blankenburg, Thale – überall könnte ich einen Tag bleiben. Doch Quedlinburg zieht mich magisch an. Dürfte man Preise für die schönsten Städte Deutschlands vergeben, würde ich hier viele Punkte verteilen.

Einsame Straße in der Altstadt von Quedlinburg
Reiseuhu

Ziellos streife ich durch die kopfsteingepflasterten Gassen. Gut 2.000 Fachwerkhäuser aus acht Jahrhunderten stehen in der Welterbestadt. Mal flankieren sie die breiten Straßenzüge, dann wieder umschließen sie einen Platz.

Hängebrücke Titan RT

Nach einem Schauer ziehe ich an der Seite der Bode in Richtung Harz. Bei Thale hat der Fluss einen Canyon ins Mittelgebirge geschnitten. Die Straße K1350 führt auf das Granitfels Plateau Rosstrappe. Von Westen her verdrängt der tiefblaue Himmel die Wolken. Sonnenstrahlen streichen über die Hänge. Ein Farbrausch. Wie von einem Maler hingetupft wellt sich das Land im Süden: Bäume in tannengrün, buchengelb, ahornrot. Runter zur Bode. Ein ruhiger Forstweg folgt den Windungen des jungen Flusses. Hinter der Siedlung Wendefurth gibt es nur die Bundestraße 81.

Tief über den Lenker gebeugt, stemme ich mich die steilen eineinhalb Kilometer hinauf. Nach einer Abzweigung reiht sich ein parkendes Fahrzeug ans Nächste. Spaziergänger laufen die Straße entlang. Heute an einem Sonntag will gefühlt halb Norddeutschland zur 483 Meter langen Hängebrücke Titan RT. Sie spannt sich neben der Staumauer der Rappbodetalsperre über die Senke. Auf beiden Seiten bettet sich das gestaute Wasser malerisch in den Wald. Wie Ameisen bewegen sich die Ausflügler über die Brücke. Darunter Bungeejumper und paarweise Personen an der Megazipline.

Von Sorge nach Elend

Vom thüringischen Ellrich aus führt die Route gen Norden. Die dritte Fahrt durch das Mittelgebirge steht an. Passend für die Etappe auf den Brocken scheint die Sonne. In Stufen steigt das Gelände an. Hinter dem Dorf Hohegeiß macht der Europa-Radweg Eiserner Vorhang ernst, es geht auf einen Lochplattenweg. Ich habe keine Ahnung, wo die BRD lag, weiß nur, dass dieser Weg von den Grenzern der DDR in den Wald gelegt wurde. 10 Grad, tolle Fernsicht. Voraus mahnt der 1.141 Meter hohe Brocken was noch vor mir liegt. Doch im Moment bin ich hochkonzentriert. Versuche nicht mit den Rädern in die Löcher zu kommen. Ab Sorge geht es auf der Straße nach Elend. Die Dörfer heißen wirklich so. Im Wald ein Schnauben.

Schmalspurbahn fährt durch den Harz
Schmalspurbahn Harz (Foto: Bildagentur Zoonar GmbH/ Shutterstock.com)

Nach Minuten Dampf über den Wipfeln der Kiefern. Ein Zug der Harzer Schmalspurbahn prescht heran. Tuuttt, Tuuttt, Tuuttt. Der Lokführer nickt mir zu, Passagiere winken. Im Nationalpark Harz müssen Autos draußen bleiben. Schließlich bringt die Brockenbahn sommers wie winters Gäste bequem auf den Berg.

Vom Sperrgebiet zum Ausflugsziel

Wie die Kringel einer Nussschnecke haben Arbeiter im Jahr 1899 die Gleise in einer Spirale den Berg hinauf gelegt. Bis zur Wende war der Brocken Sperrgebiet. Einzig die Grenztruppen der DDR und Soldaten der Sowjetunion hatten Zugang. Ich erreiche einen Streifen mit abgestorbenen Kiefern. Auf dem Boden liegen vom Sturm gebrochene Stämme wie Mikado Stäbchen übereinander. Es folgt ein Stück mit gesundem Wald. Schließlich lichten sich die Bäume. Der Brockenbahnhof, dahinter das Brockenhaus, die 123 Meter hohen Sendeanlagen und das Brockenhotel. Darin wollte ich übernachten, doch alle Zimmer sind lange ausgebucht.

Sendeturm auf dem Brocken von 1973
Sendeturm auf dem Brocken (Foto: Thorsten Brönner)

Am Westende des Gipfels geht der Blick weit ins Norddeutsche Tiefland. Bis 18 Uhr bleibe ich auf dem Brocken, schaue den ankommenden und abfahrenden Zügen nach, schieße Fotos. Dann zieht von Westen her ein Wolkenband auf und schluckt den Sonnenball. Kälte und Wind treiben mich ins Tal.

Gespensterwald

Sonnenlicht bahnt sich durch den dichten Wald bei Schierke
Kay Wiegand/ Shutterstock.com

13 Stunden später peitscht Regen über den Luftkurort Schierke. Bis neun Uhr drücke ich mich im Hotel herum. Es hilft nichts: Erneut in die Regenkleidung, Überschuhe an, Kapuze tief ins Gesicht. Im Nationalpark ist kein einziger Wanderer zu sehen. Bin hellwach und happy. Das Stück mit den abgestorbenen Bäumen. Erst jetzt sehe ich, dass zwischen den Gerippen erste Laubbäumchen sprießen. Die hier ursprünglich heimischen Arten holen sich das Terrain zurück. Je nach Höhenlage wachsen im Harz neben den Fichten auch Buchen, Eichen, Ebereschen und Birken. An einem unbeschrankten Bahnübergang das wohlvertraute Tuten. Der erste Zug des Tages faucht dampfend den Brocken hinauf.

Auf 884 Meter Höhe zweigt ein Schotterweg ins Ilsetal ab. Kraftvoll fährt der Wind durch die Baumwipfel. Ich zögere einen Moment. Nochmals auf den Gipfel fahren? Besser nicht, wäre ja doch nichts zusehen. Also ins Tal. In Gedanken bin ich schon unten. Doch da ist er wieder der Gespensterwald. Nebel. Regen. Tote Fichten. Was für eine Stimmung um mir und in mir.


Strecke: Die Tour folgt den Routen: Weser-Harz-Heide-Radweg, Harzrundweg, Europa-Radweg R1, Europa-Radweg Eiserner Vorhang. Schön ist die Fahrt über den Innerste-Radweg.

Infos
Harzer Tourismusverband e.V., Marktstraße 45, 38640 Goslar
Tel. 05321/340 40, www.harzinfo.de

An- und Abreise
Rund um den Harz gibt es mehrere Bahnhöfe. Die Züge der Harzer Schmalspur Bahnen fahren ins Herz des Mittelgebirges. Hier können Sie ihr Fahrrad kostenfrei mitnehmen, sofern es Platz gibt.