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Einsame Straße in der Altstadt von Quedlinburg
Reiseuhu

Quedlinburg: König, Kaiser, Käsekuchen

Text
Carsten Heinke

Ohne Ende schöne alte Fachwerkhäuser, malerische Gassen, in denen es nach Süßem duftet. Mittendrin ein Schloss- und Kirchenberg, von dem aus starke Frauen europäische Geschichte schrieben. Hilfreich beim Erkunden dieser spannenden wie liebenswerten Harzstadt sind Insiderinnen wie Sabine Houben. Die Englischlehrerin mit holländischen Wurzeln zeigt Gästen gerne ihre Lieblingsplätze in Quedlinburg.

Vom nahen Harz gut abgeschirmt, sonnt sich Quedlinburg wie so oft im besten Sonntagswetter.

Aus der Vogelperspektive gleicht die Altstadt einem Meer von roten Ziegeln,

schwärmt Sabine Houben.
Häuserdächer in Quedlinburg
Stefano Zaccaria/ Shutterstock.com

Die Frau mit fröhlichem Gemüt und dunkelblonder Lockenmähne ist Englischlehrerin und Guide. Gern animiert sie ihre Gäste zu einem Blick vom Schlossberg. 

Mit der Insiderin durch Quedlinburg

Überredet! Alle wollen mit. Aufwärts geht‘s, Sabine vorneweg. Über die Pastorentreppe, vorbei an jungen Kirsch- und alten Quittenbäumen, führt die 57-Jährige die kleine Gruppe auf den Berg hinauf. Uralte Gärten sonnen sich an seinen Hängen, dank Wärme und geschützter Lage in der meisten Zeit des Jahres blatt- und blütenreich. Sie sind ein schöner Bonus für die Aussicht von ganz oben, quasi der grüne Saum des mittelalterlich bebauten Hügels. Hoch über all den vielen kleinen Dächern reckt er sich heute in den blauen, wolkenlosen Himmel.

Stadtführerin Sabine Houben
Carsten Heinke

„Schon als hier noch dichte Wälder standen, war der Ort ein Lieblingsdomizil der Fürsten“, weiß Sabine Houben, deren Vater Holländer ist. Seine Familie zog aus der Gegend um Leiden nach Brandenburg, wo auch Sabine aufwuchs. Ihr Herzensplatz ist Quedlinburg. Als junges Mädchen kam sie einst hierher, verliebte sich in diese Stadt aus malerischen Kopfsteinpflastergassen voller Fachwerkhäuser – und blieb für immer.

In den Genuss kam Stadtbegründer, Sachsenherzog Heinrich I., nicht. Zu seinen Zeiten war es üblich, dass Hof und Herrscher mangels festem Sitz das Reich von Pfalz zu Pfalz durchreisten. Eine dieser temporären Residenzen ließ der spätere Ostfrankenkönig genau an dieser Stelle bauen. „Anno 922 wurde die Burg auf einem Sandsteinfelsen überm Bodetal am Rand des Harzes erstmalig als Quedlinburg erwähnt“, lässt Sabine Houben ihre Gäste wissen – und fährt fort: „Der König wie auch seine Söhne – beide deutsche Kaiser – nutzten sie als Osterpfalz. Nach Heinrichs Tod bestattete man ihn wunschgemäß in der Pfalzkapelle auf dem Schlossberg.“

Zur Wahrung seines Andenkens gründete Heinrichs Sohn und Nachfolger Otto I. auf Initiative der Königinwitwe, seiner Mutter Mathilde I., ein Damenstift. Es versorgte, bildete und schützte unverheiratete Adelstöchter und mischte – dank enger familiärer Verbindungen zu den Mächtigsten – in der Politik entscheidend mit. 

Im Gegensatz zu einem Kloster besaß das Stift weltlichen Charakter, auch wenn es die längste Zeit von Äbtissinnen geführt wurde. Die erste von ihnen, Kaisertochter Mathilde II., wurde 966 im Alter von elf Jahren in das Amt geweiht.

Als eine der einflussreichsten Frauen der damaligen Welt lenkte dieses junge Mädchen die Geschicke Europas mit. Später vertrat sie zeitweilig sogar den Kaiser.

In der Hand von starken Frauen

Wie groß der Reichtum der mächtigen und klugen Stiftsfrauen war, zeigt heute noch der sogenannte Quedlinburger Domschatz – zu bestaunen in St. Servatii, für Jahrhunderte das Gotteshaus des Damenstifts, auch Quedlinburger Dom genannt. Geweiht ist es dem Lieblingsheiligen Mathildes: Sankt Servatius von Tongern, dem ersten Bischof in den Niederlanden. Aus der Basilika in Maastricht, wo der vermutlich in Armenien geborene Mann anno 384 starb und bestattet wurde, ließ die Königin Reliquien des Heiligen nach Quedlinburg bringen. Später wurden sie zurückgegeben.

Die hochromanische dreischiffige Basilika mit ihrem streng geformten Zwillingsturmpaar bekrönt als Wahrzeichen von Quedlinburg seit neun Jahrhunderten den Schlossberg. Im Ganzen kann man sie derzeit wegen umfangreicher Renovierung nicht bewundern. Doch trotz Baugerüst erhält man einen Eindruck ihrer schlichten Schönheit und Erhabenheit. Und das Wichtigste: Die Domschatzkammern sind geöffnet!

Schlossberg und Dom in Quedlinburg
Carsten Heinke

Licht- und Szenenwechsel bei der City-Tour

Nach ein paar Treppenstufen und ein wenig Schlangestehen haben sich die Augen auf die Dunkelheit der beiden kleinen Räume eingestellt. „Der erste ist der sogenannte Zitter“, erklärt die Führerin. Er sei eigens eingebaut zur Aufbewahrung aller Preziosen, die das Stift geschenkt bekam. Nachdem der im Zweiten Weltkrieg gestohlene Schatz 1993 aus den USA zurückgekehrt war, schuf man für ihn einen zweiten Raum, um alles sicher präsentieren zu können.

Die knapp beleuchteten Vitrinen setzen gold- und edelsteinbesetzte Kostbarkeiten wirkungsvoll in Szene. Flüsternd stellt Sabine Houben sie ihren Begleitern vor: Reliquienkästen, -kreuze und -flakons, Prachthandschriften und geschnitztes Elfenbein wie der Heinrichskamm. Ältestes Stück ist ein 2.000 Jahre alter Alabaster-Krug aus Kana. Zu den kunsthistorisch wertvollsten zählt eine handgeschriebene und -gezeichnete Buchseite aus dem fünften Jahrhundert. „Sie gehört zum frühesten bekannten illustrierten Bibeltext der Welt“, so die Pädagogin. 

Und weiter geht es in die Krypta, die bis auf die Fürstengruft Besuchern offensteht. Neben anderen sind dort die Grabplatten von acht Äbtissinnen zu sehen. Die beiden wichtigsten Begräbnisstätten sind die des Gründerpaares Heinrich I. und Mathilde. Dass das Grab des Königs leer ist, bedauert Sabine Houben.

Seinen Leichnam hatte man hier beigesetzt. Doch er verschwand – warum, wohin, weiß heute niemand mehr. 

Bunte Fachwerkhäuser in einer Stadt in Sachsen-Anhalt
Ralf Geithe/ Shutterstock.com

Vom Finkenherd zum Königsthron

Geehrt wird Heinrich vielerorts in Quedlinburg – auf die wohl menschlichste Art mit einem Brunnen in der Turnstraße. Das 2007 aufgestellte Kunstwerk von Jochen Müller greift die Legende um die Krönung auf. Denn die erzählt, dass sich Sachsenherzog Heinrich I. gerade auf der Vogeljagd befand, als er von der Königswahl erfuhr. So lässt ihn der Bildhauer, schleichend und zum Fang bereit nach vorn gebeugt, auf einen Finken zugehen, während Frankenherzog Eberhard bereits die Krone in den Händen hält.

Der Ort der sagenhaften Szene war der Finkenherd am Fuß des Schlossbergs. Eine Straße trägt noch immer diesen Namen. Ihr bekanntestes Gebäude ist die Nr. 1 – ein kleines, allerliebstes Fachwerkhaus mit spitzem Dach sowie drei freien Seiten. Es entstand im späten Mittelalter und beherbergt heute eine Zweigstelle der Tourist-Information. 

Gleich um die Ecke steht das Geburtshaus des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803). Das darin befindliche Museum informiert über Leben und Werk des deutschen Literaten und dessen Zeitgeschichte. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern der Epoche der Empfindsamkeit.

Käsekuchen-Paradies

Dass es ringsherum ganz verführerisch nach frisch Gebackenem schnuppert, liegt an den Cafés „Vincent“ und „Am Finkenherd“, die berühmt für ihre Käsekuchen sind. Die Rezepte dazu stammen noch aus Omas Zeiten oder sind moderne Eigenkreationen wie Sabine Houbens Lieblingssorte mit vielen Heidelbeeren. 

Die Lieblingsnascherei der Quedlinburger genieße man bei Sonnenschein und milden Graden am allerbesten an der frischen Luft im Freisitz – „mit wunderbarem Blick zum Schlossberg und auf den Platz davor“, so die Gästeführerin.

Deutscher Käsekuchen
Chinh Le Duc

Die Augen schlemmen mit

Süße Leckereien mit Aussicht gibt es in der ganzen Innenstadt. Denn mit ihren schmucken, oftmals hochbetagten Fachwerkhäusern, eleganten Villen, Parks und Schlösschen bietet sie auch viel Gelegenheit für kulinarische Erlebnisse. Die höchste Dichte an Lokalen aller Art ist auf dem Markt zu finden. Bei schönem Wetter – wie an diesem Tag – reiht sich dort ein Freisitz an den anderen. Sie gehören zu Cafés und Bäckereien, Hotels und Restaurants. Man sitzt und schlemmt in einer fabelhaften Szenerie aus vielen hundert Jahre alten, bunten Baukunstschätzen. 

Rathaus auf dem Marktplatz in Quedlinburg
Mistervlad/ Shutterstock.com

Dominiert wird die Kulisse durch die Türme von St. Benedikti und dem Rathaus aus der Gotikzeit. Ein 2,75 Meter hoher steinerner Roland, der im 15. Jahrhundert geschaffen wurde, wacht vor der Frontfassade. Traditionell ist diese von dicken Efeupolstern überwuchert. Auch die Blumenkästen sind nicht aus den Fenstern wegzudenken. Warum, erklärt Sabine:

Früher wurden sie mit duftenden Kräutern bepflanzt, um die den damals allgemein üblichen Straßengestank zumindest etwas abzumildern und so die Luft in den Amtsstuben zu verbessern.

Brunnen-Hopping

Heute kann man sich die Stadt ganz unbesorgt in tiefen Zügen gönnen – umso mehr, wenn so wie jetzt eine Dixie-Band aus Tschechien mit legeren Rhythmen für Entspannung sorgt. Wie dafür gemacht, empfiehlt sich Wolfgang Dreysses Brunnen „Münzenberger Musikanten“ als Straßenbühne für das sonntägliche Open-Air-Konzert. 

Münzberger Musikanten Brunnen an sonnigem Tag
Ariya J/ Shutterstock.com

Zumindest Wasserplätschern als Geräuschkulisse zum Kaffee bietet sich ebenso am Kornmarkt. Denn unmittelbar vor Café und Kneipe „Ruinenromantik“ steht seit 1989/90 der von Bernd Göbel geschaffene Brunnen „Persönlichkeiten der Quedlinburger Geschichte“. Zu den mittelalterlichen Gründern gesellte der Bildhauer hier unter anderem auch den Hund Quedel, Wappenhund der Stadt, und eine symbolische Figur, die deren Bedeutung in der Saatgutproduktion repräsentieren soll. 

Am auffälligsten ist die Brunnenstelle mit einer Frauenbüste. Diese zeigt die Ärztin Dorothea Christiane Erxleben. 1715 selbst als Tochter eines Arztes in Quedlinburg geboren, war sie 1774 die erste Deutsche, die tapfer und erfolgreich für mehr Frauenrechte kämpfte und einen Doktortitel in der Medizin erwarb. 

Trotz jahrhundertelanger weiblich geprägter Politik durch die Äbtissinnen hielt man auch in dieser Stadt am alten Rollenmuster fest. Die promovierte Akademikerin, die bis zu ihrem frühen Tod in Quedlinburg lebte und als Ärztin praktizierte, wurde dennoch stets – mit Verweis auf den Beruf ihres Ehemannes – mit „Frau Pastorin“ angesprochen.