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Moos und Blumen wachsen auf einem toten Baum.
Konrad Bender

Ein märchenhaftes Wochenende in Nordhessen

Rotkäppchen, Schneewittchen, Rumpelstilzchen – kaum jemand hat in der Kindheit keine von Grimms Märchen erzählt bekommen. In Kassel und der umliegenden Region hat das prominente Brüder-Duo gelebt und gewirkt. Unser Redakteur Konrad Bender hat sich für ein sommerliches Wochenende nach Nordhessen begeben und nach knusperbaren Hexenhäuschen, cholerischen Männlein und bösen Wölfen Ausschau gehalten.

Kassel. Die drittgrößte Stadt Hessens ist über die Landesgrenzen hinaus als Heimat der documenta bekannt. Je ein Werk der Kunstschau kauft die Stadt nach Bürgerabstimmung, sodass sich ein Spaziergang durch die ehemalige Residenzstadt wie ein Besuch im Freiluftmuseum anfühlt. Ich besuche Kassel aber an diesem Wochenende als Märchenfan. Denn in der Grimmwelt liegt die Originalausgabe von Grimms Hausmärchen. Im nahe gelegenen Nationalpark Kellerwald-Edersee fühle ich mich dann schon etwas mulmig, während ich mich durchs Dickicht schlage. Die magischen Wasserspiele im Bergpark bilden schließlich den krönenden Abschluss dieses märchenhaften Wochenendes.

Tag 1: Sagenhafte Grimmwelt

„Wabbung, Wäbe, Wabel, Wäbel …“ Zentimeter für Zentimeter bewegt sich der hellgelbe Text an der Wand empor, Wort für Wort für Wort, alphabetisch sortiert. Schnell wird klar, dass es sich hier um ein Wörterbuch handelt, aber ganz sicher kein zeitgenössisches. Tatsächlich wirft die Kunstinstallation im Foyer der Grimmwelt Kassel in einem Zeitraum von je 100 Tagen das gesamte Wörterbuch der Brüder Grimm von A wie „Ärschlein“ bis Z wie „Zypressenzweig“ an die Wand – mehr als 330.000 Wörter.

Infotafel "Ärschlein" in der Grimmwelt Kassel
Konrad Bender

Moment mal, Wörterbuch? Ja, ganz richtig. Jacob und Wilhelm Grimm haben nicht nur eine weltbekannte Märchensammlung zusammengetragen, sondern auch das umfangreichste Wörterbuch der deutschen Sprache geschrieben. Oder zumindest damit angefangen, fertiggestellt wurde der 16 Bände schwere Sprachalmanach erst 1961, lange nach dem Ableben der beiden Brüder.

Deckblätter der verschiedenen Ausgaben von "Grimms Wörterbuch"
Konrad Bender

In dem 2015 eröffneten Ausstellungshaus dreht sich alles um das berühmte Brüdergespann, das in Kassel und Nordhessen gelebt und gewirkt hat. Die 25 Abschnitte der Grimmwelt sind wie im Wörterbuch von A bis Z geordnet, sichtbar gemacht durch hell leuchtende Neonbuchstaben. Aber keine Sorge: Dass man Wissen nicht staubig präsentieren muss, zeigt mir eine Installation gleich zu Beginn der Ausstellung, unter dem Buchstaben Z wie Zettel.

Installation "Zettel" in der Grimmwelt Kassel
Konrad Bender

Die hängen dann auch dort, und zwar an einer Wand von oben bis unten – vollgeschrieben mit Sätzen, in denen das Wort „Zettel“ auch tatsächlich vorkommt. So nämlich haben die Brüder ihr Wörterbuch zusammengetragen, durch rigorose Sichtung deutscher Literatur. Die Recherche kam dann auf einzelne Zettel. Das Wort Zettelwirtschaft findet sich bezeichnenderweise noch nicht in der Sammlung.

Spieglein, Spieglein an der Wand

Neben dem Wörterbuch steht – wie könnte es anders sein – auch die weltberühmte Märchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“ im Fokus. Deren Manuskripte, die sogenannten Kasseler Handexemplare, sind bereits seit 2005 Unesco-Weltdokumentenerbe. In der Grimmwelt stehen die Dokumente im papierfreundlich gedimmten Rampenlicht in der Vitrine und begrüßen die Besucher.

Originalausgabe von "Grimms Hausmärchen", Teil des Unesco-Weltdokumentenerbe
Grimmwelt Kassel | Nikolaus Frank

Besonders die Abschnitte zu den Märchen sind ein Fest für die Sinne und laden häufig zum Mitmachen ein. Schon nach dem Eintreten wispert es mich von rechts: „Hey, du. Ja, genau du! Komm doch mal her.“ Der Anweisung gefolgt, finde ich mich in einem Wald mit einfachem Geschicklichkeitsparcours wieder und stehe schließlich vor dem Spieglein, Spieglein an der Wand. Was genau dort passiert, verrate ich hier nicht, aber es lohnt sich!

Auch Geschichtsfans kommen im dritten Abschnitt der Grimmwelt voll auf ihre Kosten. Der nämlich setzt sich mit der Lebensgeschichte der Brüder auseinander und erklärt unter anderem, welche Rolle Jacob Grimm im Parlament der Frankfurter Paulskirche 1848 hatte und wie die Brüder zu Lebzeiten mit ihrer Prominenz umgegangen sind. Also rundum ein tolles Erlebnis.

Leuchtende Neonbuchstaben in der Grimmwelt Kassel
Konrad Bender

Tag 2: Verwunschener Nationalpark Kellerwald-Edersee

„Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen“, weiß seit Jahrhunderten der Volksmund im Gewitterfall. Ist ja schön und gut, aber wo sind sie denn noch, die Buchen? Zum Beispiel in gar nicht so geringer Zahl im Nationalpark Kellerwald-Edersee, ganz in der Nähe von Kassel. Seit 2011 ist der Rotbuchenwald innerhalb des Nationalparks sogar Teil des Unesco-Weltnaturerbes „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder“. Nach der Eiszeit war ganz Europa von den stillen Riesen bedeckt. Davon sind heute nur noch einige Gebiete in Mitteleuropa – eben hier in Nordhessen – und den Karpaten übrig.

Ranger Tobias Fleck führt durch den Nationalpark Kellerwald-Edersee in Nordhessen
Ranger Tobias Fleck im Nationalpark | Konrad Bender

Umso wichtiger, dass wir alle mit diesem sprichwörtlichen Erbe pfleglich umgehen. Dafür sorgen im Nationalpark die Rangerinnen und Ranger. Einer von ihnen ist Tobias Fleck. Der groß gewachsene Naturbursche fällt als Erstes durch seinen breitkrempigen Hut auf, der ihn schon von Weitem als Ranger und damit als Autoritätsperson kenntlich macht. „Es kommt schon vor, dass Besuchergruppen im Nationalpark gegen Vorschriften verstoßen. Häufig unwissentlich.“ Tatsächlich gelten in Nationalparks mit die strengsten Regeln in deutschen Schutzgebieten. Neben dem Üblichen, beispielsweise keinen Müll zu hinterlassen, sind auch übermäßiger Lärm in Form von lauter Musik oder das Bauen von Steintürmen verboten. „Wir wollen den Wald, soweit es geht, von menschlichen Einflüssen freihalten“, erklärt Ranger Tobias.

Schmaler Waldweg im Nationalpark Kellerwald-Edersee in Nordhessen
Konrad Bender

Diesen Ansatz merkt man überall im Nationalpark und vor allem im Naturerbe. Je weiter man in den Wald hineindringt, umso schmaler werden die Besucherwege, bis es nur noch im Gänsemarsch vorangeht. Beinahe komme ich mir vor wie Hänsel und Gretel, so weit weg fühle ich mich hier von der nächsten Zivilisation. Lärmquellen wie eine entfernte Autobahn oder ein Güterzug dringen nicht so tief in den dichten, grünen Wald vor. Stattdessen: wehender Wind in den Baumkronen, leises Rascheln im Dickicht und etwas entfernt das Plätschern eines Bachs. Durch ähnliche Wälder sind vielleicht auch die Brüder Grimm gewandert, als sie auf der Suche nach Sagen und Erzählungen durch Nordhessen gezogen sind.

Aus dem umgerissenen Erdreich einer gefallenen Buche wächst ein neuer Sprössling.
Konrad Bender

Natur, wie sie sein sollte

Hin und wieder liegen kleinere und größere Bäume quer über dem Weg, darunter hinwegducken oder hinüberklettern macht die Wanderung zum leichten Akrobatikprogramm. Das hat System. „Das Totholz ist ein wichtiger Bestandteil des Waldkreislaufs“, informiert der Ranger. „Einzelne Rettungswege halten wir allerdings frei. Und auch gegen invasive Spezies gehen wir vor, beispielsweise die Pflanze Robinie, die dem einheimischen Wald schadet.“ Der Mühen Lohn: Der Nationalpark ist heute ein wichtiger Schutz- und Rückzugsort für gefährdete Tierarten wie Wildkatzen, Schwarzstorche und Feuersalamander – und die Rückeroberung des Gebiets durch die Natur ist noch lange nicht abgeschlossen.

Zwei tote Bäume liegen quer über einem Waldweg in Nordhessen.
Konrad Bender

Menschliche Besucher dürfen und sollen trotzdem durch den Nationalpark wandern – nur eben respektvoll und ohne Brotkrumen zu hinterlassen. Damit das klappt, startet ein Tagesausflug in das Schutzgebiet am besten im Besucherzentrum Kellerwald. Das ist von Kassel in einer Stunde mit dem Auto oder in unter zwei Stunden mit den Öffentlichen erreichbar. Nicht nur lernen Interessierte in der kleinen Dauerausstellung allerlei Wissenswertes über das urtümliche Buchenbiotop, mit dem tollen 4-D-Kino bekommen kleine und große Besucher auch eine eindrückliche Einführung in filmischer Form mit auf den Wanderweg.

Blick auf den Edersee im Nationalpark Kellerwald-Edersee in Nordhessen
Dirk Hustadt

Insgesamt führen 19 hervorragend markierte Rundwanderwege durch den Nationalpark, alle Längen vertreten. Der längste und sicherlich herausforderndste von ihnen ist der Urwaldsteig Edersee, der mit einschüchternden 66 Kilometern Strecke zu Buche schlägt. Wesentlich entspannter sieht da doch die Ringelsberg-Route mit machbaren 10 Kilometern aus. Der Weg führt auch durch Teile des noch erhaltenen Buchenurwalds und hat einige Top-Aussichtspunkte auf den märchenhaft funkelnden Edersee in petto. Einfach immer dem gelben Pilzsymbol folgen. Außer bei schweren Gewittern. Da hilft, Buchen hin oder her, am besten ein festes Dach über dem Kopf.

Tag 3: Romantische Wasserspiele

Die Hänge sind gefüllt mit gespannten Besuchern, obwohl die Wolkendecke die Sonne nur hin und wieder hindurchlässt. Man muss früh da sein, um gut sehen zu können. Jeden Moment könnte es so weit sein, das Wasser wird fließen und ein jahrhundertealtes Spektakel die Menschen auf der Kasseler Wilhelmshöhe aufs Neue ins Staunen versetzen: die Wasserspiele im Bergpark.

Ansicht der Wasserspiele vom Schloss WIlhelmshöhe aus
Kassel Marketing

Hoch oben auf der Wilhelmshöhe erstreckt sich das barocke Technikwunder, gekrönt von einer acht Meter hohen Kupferstatue des Halbgotts Herkules, der auf die ehemalige Residenzstadt der Landgrafen von Hessen-Kassel hinabblickt. Fast überall in der Stadt kann man den strengen Blick des antiken Supermans förmlich spüren. Das Kulturdenkmal bildet mitsamt dem nahe gelegenen Schloss Wilhelmshöhe und der romantischen Löwenburg den Bergpark Wilhelmshöhe – seit 2013 Unesco-Weltkulturerbe und noch länger ein Publikumsmagnet Nordhessens.

Rückansicht auf die Herkulesstatue im Bergpark Wilhelmshöhe
Konrad Bender

In den Sommermonaten setzt die Stadt zweimal wöchentlich die Wasserspiele in Gang. Im 18. Jahrhundert vom Landgrafen Karl von Hessen als absolutistische Machtdemonstration in Auftrag gegeben, erfreut das H2O-Spektakel heute Kasseler und Besucher von außerhalb gleichermaßen. Gut zwei Millionen Liter Wasser laufen pro Durchgang die unterschiedlichen Stationen hinab, ergießen sich in Kaskadenbecken, fallen als romantische Wasserfälle in die Tiefe und schießen schließlich als 50 Meter hohe Fontäne aus dem Schlossteich. Ein echtes Spektakel – und das ganz ohne Pumpen! Denn das wäre zur Zeit des Baus noch wenig praktikabel gewesen. Heute wirkt das System mit gesammeltem Regenwasser und Wasserdruck fast nachhaltig innovativ.

Fontäne im Schlossteich des Bergparks Wilhelmshöhe
Konrad Bender

Kunst und Kultur zur Genüge

Und so sind das Staunen und Wundern an diesem Sonntag groß. Parallel zum Wasser bahnen sich die Besucherströme einen Weg hinunter, ich mittendrin. Trotz dicker Wolkendecke haben mehrere Tausend Ausflügler den Weg in den Bergpark auf sich genommen – dem Stimmenwirrwarr nach zu urteilen aus aller Herren Länder. Die Begeisterung jedenfalls ist groß, die „Ohs“ und „Ahs“, die die Wasserspiele dem Publikum entlocken, sind international verständlich.

Wasserfall im romantischen Teil der Wasserspiele
Konrad Bender

Doch nicht nur das Wasserschauspiel lohnt sich auf der Wilhelmshöhe. Schließlich gibt es hier auch ein Schloss. Der als Sommerresidenz gedachte Prachtbau beherbergt heute eine renommierte Gemäldegalerie, darunter Werke von Rembrandt, Tizian und Rubens.

Frontansicht von Schloss Wilhelmshöhe in Kassel
Konrad Bender

Noch bis zum 17. September ist außerdem die Sonderausstellung „Bergpark reloaded“ zu sehen. Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Status als Weltkulturerbe hat das Museum die ursprünglichen Pläne – soweit bekannt – digital rekonstruieren lassen. Für die eigentliche Planung wäre allerdings schlicht und ergreifend nicht genug Wasser vorrätig gewesen. Als Rekonstruktion nun aber nicht nur für Architekturfans ein Blickfang.

Die Kaskaden in den Wasserspielen von oben
Paavo Blofield

Und sonst?

Übrigens – wenn ihr in einem der mehr als 100 teilnehmenden Häuser in Kassel übernachtet, gibt’s umsonst die „MeineCardPlus„. Damit ist nicht nur der Eintritt in die Grimmwelt oder der Aufstieg in den Herkules kostenfrei, sondern auch mehr als 140 weitere Freizeitangebote, vom Wasserpark bis zum Besucherbergwerk. Außerdem düst man mit der Karte kostenfrei im Nahverkehr des NVV. Den Nahverkehr empfiehlt die Stadt Kassel auch als Transport zu den Wasserspielen an Vorführungstagen: Vom Besucherzentrum Wilhelmshöhe fährt ein Bus zum Besucherzentrum Herkules hinauf.