Eine Popcorn-Maschine im Freibad? Ein DJ vor dem Holstentor? Manufakturen in der Einkaufsstraße? Ein Ausflug nach Lübeck mit all seinen Sehenswürdigkeiten ist überraschender als man denkt – sogar, wenn es um Marzipan geht.
Jan Weiler ist ein deutscher Schriftsteller, der einst für sein Buch „In meinem kleinen Land“ genau 100 Städte in Deutschland besuchte. Sein Fazit: „Die brutalsten Städte sind Pforzheim und Dortmund, die heimeligsten Bamberg und Lübeck.“ Was Lübeck angeht, muss man nach Belegen für seine These nicht lange suchen.
Abstecher ins Grüne
Das Wakenitzufer beispielsweise mit dem historischen Naturbad Falkenwiese und seinen majestätischen Altbauvillen liegt nur wenige Minuten vom Zentrum Lübecks entfernt. Und doch wirkt es in seiner entspannten Beschaulichkeit wie ein mondäner Badeort aus vergangenen Zeiten. Das Naturbad Falkenwiese steht unter Naturschutz, die hölzernen Umkleidekabinen führen weit aufs Wasser der Wakenitz hinaus. Ein besonderer und so noch nirgendwo gesehener Gag ist ein nostalgischer Popcorn-Automat am Ausgang, der nach Wahl süße oder salzige Maiskörner ausspuckt.
Wer solch liebenswürdig-skurrile Details mag, wird nur einige Meter entfernt im Schulgarten der Stadt erneut fündig. Hier wartet ein niedlicher kleiner Pavillon auf große und kleine Leser, die sich an den Fibeln zur schleswig-holsteinischen Flora und Fauna erfreuen dürfen. Gratis! Die Gartenanlage selbst ist nicht allzu groß, aber mit Charme angelegt – und der kleine Kiosk am Eingang ist bekannt für seinen feinen selbstgebackenen Kuchen.
Die engen Gänge in Lübeck und ihre Geschichte
Der Gipfel der Lübecker Heimeligkeit aber, wenn man das so sagen darf, erwartet Besucher in den „Gängen“ von Lübeck, eine seiner vielen Sehenswürdigkeiten. Was hat es damit auf sich? Ganz einfach: Als sich in Lübeck während seiner wirtschaftlichen Prachtzeit im 14. Jahrhundert als „Königin der Hanse“ ein Platzproblem entwickelte, kam man auf eine schlichte Lösung. In die schicken Bürgerhäuser brach man im vorderen Teil kleine, enge Gänge und baute dann in den Hinterhöfen und Gärten der Häuser so genannte Buden für die ärmere Bevölkerung.
Fast 100 dieser Torbögen und Gänge sind bis heute erhalten, werden aber längst nicht mehr von den Armen bewohnt. Hier sind kleine Häuser, Fluchten und Hinterhöfe entstanden, die idyllischer nicht sein könnten; kleine Paradiese für Menschen, die sich auch in einem Märchenland von Tolkien wohlfühlen würden. Die meisten dieser Gänge sind offen für Besucher, es werden von der Stadt Führungen angeboten, die mit interessanten Details zu all diesen liebevoll restaurierten Kleinoden aufwarten.
Das Wahrzeichen der Hansestadt – das Holstentor
Selbst wenn man wollte – am Wahrzeichen der Stadt Lübeck, einer der Sehenswürdigkeiten schlechthin, kommt man nicht vorbei. Das spätgotische Holstentor ist zusammen mit dem Burgtor das einzige erhaltene Stadttor Lübecks. Es markiert den Eingang zur Altstadt der schmucken Hansestadt im Norden Deutschlands. Ein Stadtbummel durch Lübeck beginnt in der Regel hier – wer kein Beweisfoto der historischen Befestigungsanlage vorlegen kann, der ist gar nicht da gewesen. Es sei denn, er kann im Gepäck nachweisen, dass er mindestens ein Kilo Marzipan eingekauft hat. (Aber besser nicht bei Niederegger. Aber dazu kommen wir später.)
Allgemeine Berühmtheit erlangte das spätmittelalterliche Holstentor durch den Umstand, dass es Jahrzehnte auf dem deutschen Fünfzig-Mark-Schein abgebildet war. Damit war am 1. Januar 2002 mit der Einführung des Euros zwar Schluss, doch immerhin wurde es 2006 noch auf der Zwei-Euro-Münze abgebildet.
Besucher der Stadt sorgen sich allerdings weniger um den Bekanntheitsgrad des Holstentores, sondern um seine offensichtliche Schieflage. Das mit 3,5 Metern trummdicke Backsteingemäuer wurde im 15. Jahrhundert auf dem morastigen Untergrund des Trave-Ufers erbaut und sackte im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ab. Erst in den 40er-Jahren wurde es so befestigt, dass es (vermutlich) so bald nicht umkippen wird.
Fotos vom schiefen Turm sind ebenso beliebt wie Späße über dieses vermeintliche Stück Pisa in Schleswig-Holstein. Dass die Lübecker ohnehin ein eher lässiges Verhältnis zu ihrem Wahrzeichen pflegen, sieht man an charmanten Kleinigkeiten. An sonnigen Tagen liegen sie zuhauf am Ufer der Trave und auf den Wiesen vor dem Holstentor und picknicken – oder legen sogar manchmal zu mobilen DJ-Klängen einen stabilen Square Dance aufs grüne Ersatzparkett.
Lübeck: Die Hauptstadt der Backsteingotik
Direkt neben dem Holstentor an der Obertrave schmiegen sich die malerisch windschiefen Salzspeicher stützend aneinander. Im sanften Licht der Abendsonne ist das einer der schönsten Anblicke, die Lübeck zu bieten hat. Er weist zudem beiläufig darauf hin, dass die Hansestadt auch als Kapitale der Backsteingotik gilt.
Als „Mutter“ der Backsteingotik wird die Marienkirche bezeichnet, ein Hauptwerk des Kirchenbaus im gesamten Ostseebereich. Auch Menschen, die Kirchenbesichtigungen in der Regel nicht sooo wahnsinnig aufregend finden, sollten sich dieses eindrucksvolle Bauwerk von innen ansehen. Zumal es von außen dank seiner beiden 125 Meter hohen Türme ohnehin nicht zu übersehen ist. Erstaunlicher Fakt: Das Mittelschiff von St. Marien ist mit 38 Metern höher als das des Notre Dames in Paris.
Besondere Läden in Lübeck
Doris Hussing lebt noch nicht allzu lange in Lübeck, ihre Arbeitsstelle hat die Apothekerin in die „Löwen-Manufactur“ nach Lübeck geführt. Sie ist eine ausgewiesene Kennerin von Heilpflanzen und von alternativer Medizin – und in dieser Hinsicht in diesem faszinierenden Mittelding aus Apotheke und Manufaktur genau richtig.
Die „Löwen-Manufactur“ ist eine der vielen individuellen Geschäfte, die es in Lübeck noch gibt. Ein Raum sieht aus wie das Rezepturen-Kabinett eines Apothekers aus dem Mittelalter, hier werden Tinkturen, Salben und Tropfen nach Rezepturen entwickelt, die zum Teil Jahrhunderte alt sind. „Mir gefällt Lübeck so gut, weil in dieser Stadt so viel Wert auf Stil und gute Form gelegt wird, auf Individualität“, sagt Doris Hussing. Lieblingsorte hat sie auch bereits: „Ich mag das nostalgische Falkenwiese-Bad sehr – und die Eisdiele Soulmates in der Fleischhauer Straße mit ihren exotischen Eismischungen. Überhaupt mag ich den lebendigen, jungen Geist, der in der Hüx- und in der Fleischhauerstraße herrscht. So viele eigenwillige Läden und Restaurants.“
Das kann auch Thorsten Knoop bestätigen, der in der Lübecker Pfaffenstraße das „Clampdown“ führt. Dabei handelt es sich um einen sehr eigenwilligen Laden für zeitlose Herrenbekleidung. Der Inhaber prüft jedes einzelne Stück in seinem Sortiment persönlich. Massenware ist hier nicht zu haben, ein Online-Shop existiert nicht. „Ich finde diese Städte furchtbar, in denen es nur noch Franchise-Läden gibt. Noch hat Lübeck seine Identität bewahrt, aber auch hier muss man aufpassen. Aber klar – Lübeck ist nicht der schlechteste Ort zum Leben.“
Auch Karin Evers sieht das so. Warum die Rheinländerin gerne in Lübeck lebt und arbeitet, bringt sie prägnant auf den Punkt: „Lübeck ist behaglich, überschaubar, ehrlich – einfach hanseatisch. Nicht aufgesetzt, sondern echt.“ Außerdem lege man in einer Stadt wie Lübeck viel Wert auf das Schöne, das Besondere. Und das passe ja schließlich zu ihrer ungewöhnlichen Geschäftsidee.
Ungewöhnlich ist das, was die gelernte Modedesignerin in ihrer behaglichen Altstadtvilla auf der Breiten Straße treibt, tatsächlich: Sie kandiert Blüten, stellt Calissons und feinste Schokoladen her. Die Blüten stammen aus ihrem eigenen Garten im Hinterhof der Villa aus dem 13. Jahrhundert. Wer auf der Straße vor ihrem Haus steht, ahnt nicht, was für eine erstaunliche Szenerie die weiten Fluchten im Inneren des Hauses bieten, inklusive dem liebevoll arrangierten Garten im Hinterhof.
Und dass die feine Dame aus Lübeck ihre Blüten auch schon mal für Dior oder ähnliche High End-Firmen anfertigt, dürfte auch so manchen überraschen, der noch nie von kandierten Blüten und Calissons (lecker!) gehört hat. Auf die Frage, ob sie denn auch Lübecker Marzipan herstellt, rollt sie nur mit den Augen, Nachfrage erübrigt sich. Natürlich nicht. Das überlässt sie den sieben (!) Marzipanherstellern, die es in Lübeck gibt und die seit Jahrhunderten als Sehenswürdigkeiten dienen, erstmals urkundlich erwähnt im Jahr 1530.
Der FC Bayern des Marzipanhandels
Der bekannteste Produzent ist die Firma Niederegger, sozusagen der FC Bayern des Marzipanhandels in Lübeck. Standesgemäß residiert man in einem Süßwarentempel mit Verkauf und Café im Herzen der Lübecker Innenstadt. Integriert ist dort ebenfalls ein Marzipan-Museum im zweiten Stock. Aber wie das so ist mit den Platzhirschen in einer Stadt: Nicht alle mögen die Wucht, mit der der Marzipan-Gigant das Straßenbild der Stadt prägt. Auch die kleineren Manufakturen wie „Carstens“, „Marzipanland“ oder „Mest“ haben ihre Fans.
Dass das Amalgam aus Mandeln, Zucker und Rosenöl selbst vom Literaturnobelpreisträger und Vorzeige-Lübecker Thomas Mann goutiert wurde, ist überliefert. Auch wenn der strenge Herr sich in seinem bekannten Zitat eine kleine Spöttelei erlaubte: „Ich vermute, dass man ein Haremskonfekt vor sich hat, und dass wahrscheinlich das Rezept zu dieser üppigen Magenbelastung über Venedig nach Lübeck an irgendeinen alten Herrn Niederegger gekommen ist.“
Dass Thomas Mann sein Opus Magnus „Die Buddenbrooks“ in Lübeck angesiedelt hat, ohne die Stadt namentlich auch nur einmal zu erwähnen, nehmen ihm die Lübecker nicht übel. Im Gegenteil: Die Kulturstiftung Hansestadt Lübeck restauriert momentan das „Buddenbrookhaus“ in der Mengstraße, das seit 1993 an Thomas Mann und sein Werk erinnert. 2027 ist die Wiedereröffnung des Mann-Museums geplant. Bis dahin müssen sich Besucher eben anderen Lübecker Sehenswürdigkeiten zuwenden. Ein Problem ist das angesichts dieser Stadt aber wirklich nicht.