Zugegeben: München ist jetzt nicht unbedingt der Geheimtipp unter den deutschen Städtereisen. Marienplatz, Frauenkirche, Rathaus, Arena – alles sehr schön, alles schon gesehen. Ein Wochenende in der bayerischen Hauptstadt lohnt sich trotzdem auch für Vielgereiste. Redakteur Konrad hat sich mal abseits der Hotspots umgesehen, auf einem Spaziergang vom Glockenbachviertel nach Haidhausen.
Vielleicht liegt es an meiner – aus Sicht mancher Süddeutschen – norddeutschen Ignoranz. Aber für mich war München lange Zeit eine homogene IT- und Auto-Hochburg, in der man außerdem noch gerne mal Weißwurst zuzelt, maßvoll trinkt und Meister wird. Dazu noch ein bisschen Wittelsbacher-Kitsch und fertig ist die Laube. Furchtbar klischeebeladen also. Aber man reist ja, um den Horizont zu erweitern.
Geplante Idylle
Und im Fall von München reicht es da schon, dass ich mich vom touristischen Marienplatz gerade einmal zehn Minuten per pedes zum gar nicht mal so viel weniger wuseligen Gärtnerplatz bewege. Menschen kommen gerade von der Arbeit, aus der Uni, vom Wocheneinkauf. Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte: Das hier ist das „echte“ München.
Und dass man sich im Glockenbachviertel den Gärtnerplatz als öffentliches Wohnzimmer ausgeguckt hat, ist kein Zufall. Der kreisrunde Platz mit einem blumenbedeckten Grasrondell mit reichlich Sitzmöglichkeiten und umgeben von Gründerzeitfassaden verlangt geradezu danach, dass man hier bei lauschigem Wetter den Feierabend eröffnet oder gleich komplett verbringt. Besonders die klassizistische Fassade des Gärtnerplatztheaters – dessen Drehbühne ein echtes Highlight ist – hat es mir optisch angetan. Schnell fällt mir aber auch auf, wie weit man durch die Sichtachsen blicken kann, die vom Platz aus in sechs verschiedene Richtungen strahlen, unter anderem zur Isar und zum Viktualienmarkt. Das hat natürlich Konzept, wir sind ja schließlich in München, woll?
„Die Isarvorstadt, wie wir sie heute sehen, wurde als Planstadt entworfen“, erklärt mir Hartmut Speck. Der sympathische Gästeführer ist einer von vielen, die zu sogenannten Viertelliebe-Führungen einladen. Die bieten die Gelegenheit, die Stadt mit neuen Augen zu entdecken, in die spannende Geschichte der einzelnen Viertel einzutauchen und die kulturellen und gastronomischen Hotspots kennenzulernen. Das spricht Eingesessene ebenso an wie mich als Ortsfremden.
Illustre Gesellschaft
Ohne die Führung wäre ich an manchem Schatz im Viertel sicherlich vorbeigelaufen. Beispielsweise am Hotel „Deutsche Eiche“. Auf den ersten Blick sieht das 1871 errichtete Gebäude aus wie ein klassisch-uriges Wirtshaus, der Name tut sein Übriges. Doch wie so oft trügt der Schein. Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte die Wirtschaft schnell zum Stammlokal der Besetzung des nahen Gärtnerplatztheaters – und damit zum Kunst- und Kulturtreff.
Ab den späten 70ern entwickelte sich die Deutsche Eiche außerdem zum Rückzugs- und Begegnungsort der Münchner Schwulen-Szene. „Unter anderem waren hier Rainer Werner Fassbinder oder auch Freddie Mercury anzutreffen, der während seiner Zeit in München hier lebte“, weiß Speck zu berichten – und hält zum Beweis ein Foto hoch, das den Queen-Sänger in der Eiche zeigt. Und auch heute noch, nachdem das Lokal Mitte der 90er zwischenzeitlich kurz vor der Schließung stand, erfreut sich die Männersauna im Hinterhaus großer Beliebtheit.
Zurück zum Gärtnerplatz. Der wurde in seiner jetzigen Form um die Jahrhundertwende als Zentrum des Glockenbachviertels geplant und umgesetzt. „Damit trug man auch dem rasanten Bevölkerungswachstum der Stadt Rechnung“, setzt Hartmut mir diese Planung in den Kontext. „Die Isarvorstadt war lange eher ländlich und handwerklich geprägt. Mit der Umgestaltung änderte sich das schlagartig.“ Tatsächlich wurde hier weit mehr verändert als „nur“ ein paar Wohnblöcke hochgezogen. So wurde der namensgebende Glockenbach kurzerhand in den Untergrund verlegt und überbaut.
Zurück zur Natur
Schnell lerne ich: Die großen Bauprojekte aus dieser Zeit prägen die Stadt bis heute. Und manche werden sogar wieder rückgängig gemacht. So etwa geschehen mit der Isar. Der Fluss, der München seit seiner Gründung prägt, wurde im 19. Jahrhundert nicht nur in München stark kanalisiert. Wie vielerorts üblich in der Zeit. Dadurch wurde der Fluss zwar tiefer und das Wasser schneller, was vor allem aus Wirtschaftsaspekten gewünscht war. Doch durch fehlende Schwemmflächen stieg auch die Gefahr, dass die Stadt bei Hochwasser geflutet wird.
Zwischen 2000 und 2011 wurde die Isar daher auf einer Strecke von acht Kilometern unter dem Motto „Neues Leben für die Isar“ renaturiert. Will heißen: so weit es geht in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Kanalwände wurden abgebaut, Uferfläche freigelegt, das Flussbett erweitert und Deiche instandgesetzt. Heute mäandert die Isar wieder ganz idyllisch durch die Stadt und das breite, grüne Ufer ist bei den Einheimischen vor allem im Sommer ein beliebter Ort, um die Sonne und das sanfte Plätschern des Flusses zu genießen. Sogar ein paar Biber haben sich hier wieder niedergelassen.
Ein Gebirge mitten in München
Am Ufer entspannen lässt es sich auch auf der Praterinsel, die etwa auf Höhe des Gasteigs mitten in der Isar liegt. Am Südzipfel der Insel steht das Alpine Museum, dessen Außenbereich umringt von Bäumen eine echte Ruheoase mitten in der Stadt ist. Zumindest, wenn die Umbauarbeiten fertiggestellt sind. Das Museum, das vom Deutschen Alpenverein betrieben wird, wurde nämlich in den letzten Jahren aufwendig umgestaltet und hat jüngst wiedereröffnet. Mit dem Umbau wurde das Haus hin zur Isar geöffnet – so, wie das Gebäude ursprünglich um die Jahrhundertwende gebaut wurde. Damals als Café Isarlust, ursprünglich für eine Münchner Kunstausstellung.
Bei der Renovierung wurde die Natur der Region mitgedacht, erklärt mir Museumspädagoge Thomas Lindner: „Der Alpenverein ist nicht nur ein Sport-, sondern auch ein Naturschutzverband.“ In der Umgestaltung der Innenräume wurde daher viel mit regional bezogenem Holz gearbeitet, an anderer Stelle mit Nagelfluh-Optik Erinnerungen an das Isarufer wachgerufen. Die kleine, aber feine Dauerausstellung im Erdgeschoss ist einem Gebirge nachempfunden und in die fünf maßgeblichen Themenbereiche Abenteuer, Körper, Leistung, Natur(schutz) und Gemeinschaft gegliedert.
Unter den Exponaten sind auch ganz besondere Einzelstücke. Etwa eine Funktionsjacke von Reinhold Messner oder ein Eispickel, der von Andreas Hinterstoißer beim Begehungsversuch der Eiger-Nordwand 1936 verwendet wurde. Die sind natürlich hinter Museumsglas. Doch es gibt auch reichlich Exponate zum Anfassen. „Die haptische Erfahrung ist ein Gewinn“, erläutert Lindner. Und ja, auch mir wird der Unterschied zwischen einem Hanfseil, wie sie lange Zeit beim Bergsteigen genutzt wurden, und einem modernen Kletterseil beim Anfassen schnell klar. Die erste Sonderausstellung „Zukunft Alpen“ soll im Oktober starten.
Über den Dächern
Jetzt will ich die Alpen aber auch mal sehen, so richtig in echt. Wenn ich schon so viel dazu gelernt habe. Dafür muss ich gar nicht weit, sondern einfach nur den Rest der Isar überqueren und hin zum Alten Gasteig. In dem 80er-Jahre-Koloss gleich am Haidhausener Isarufer war lange Zeit die Münchner Philharmonie untergebracht. Wegen Sanierung spielt die aber solange in der wunderschönen Ersatzlocation, der Isarphilharmonie. Und in der Zwischenzeit betreibt und verwaltet das Kulturprojekt „Fat Cat“ die mehr als 200 Räume, Ateliers und Säle, in denen zur Zwischennutzung Künstler, Vereine, Gastronomien und noch zig weitere Projekte untergebracht sind. Ein Projekt mit Leuchtturmfunktion zum Thema öffentliche Raumnutzung.
Ich mache mich auf den Weg nach ganz oben, auf den Kulturdachgarten. Der Name ist Programm. Auf dem Dach des Gasteigs lädt ein waschechter Biergarten zu leckeren Getränken und nicht minder leckeren Happen zum Entspannen über Münchens Dächern ein. Die – wer sich mit Baurecht auskennt, wird es wissen – nicht allzu hoch sind und somit, bei gutem Wetter, den Blick auf die Alpen freimachen. Ein Blick, den ich jetzt auch genieße. Und mich dabei freue, den Weg aus dem Zentrum gewagt zu haben.