Grau, trübe und dunkel. So geben sich die Monate von November bis Februar häufig. An der ostfriesischen Küste ist das kein Grund für schlechte Laune. Nein, Besucher können es sich bei einer Thalasso-Therapie in Neuharlingersiel richtig gut gehen lassen.
Wir stehen auf dem Deich von Neuharlingersiel und blicken nach Norden. Dorthin also, wo Spiekeroog zu sehen sein müsste. Doch die Insel versteckt sich im Nebel. Keine Seltenheit im November. Dafür ist es windstill an der ostfriesischen Küste, was schon eher die Ausnahme ist. Das Meer ist ebenso glatt wie grau und es scheint nahtlos in den Himmel überzugehen.
Auch sonst tut sich nur wenig an diesem Donnerstagnachmittag. Eine junge Möwe hofft vergeblich auf eine Nahrungsspende auf der Deichkrone, die ihr die Jagd ersparen würde. Schließlich ist grad Hochwasser und vom Wattenmeer und seinem üppigen Angebot ist nichts zu sehen. Erst als wir nach einer Dreiviertelstunde von unserem Spaziergang zurückkehren, herrscht so etwas wie Aufregung. Sie gilt der »Polaris«, einem von acht Fischkuttern, die hier ihren Heimathafen haben. Nach einem Tag auf hoher See nimmt die NEU230 mit noch ausgefahrenen Netzen Kurs auf ihren Ankerplatz.
Altmodisch beruhigend
Es hat etwas altmodisch Beruhigendes, wenn das routinemäßige Einlaufen eines Bootes zu den Höhepunkten des Tages zählt. Als wäre die Zeit stehen geblieben und gäbe es die ganzen Geräte nicht, die tagein, tagaus unsere Aufmerksamkeit einfordern. Statt auf die Bildschirme unserer Mobiltelefone zu starren, nehmen wir denn auch kurz vor dem endgültigen Einbruch der Dunkelheit an einer ortstypischen Gymnastikeinheit teil. Das Aufwärmtraining findet auf einem Strandabschnitt statt, der aufgeschüttet wurde, und es erinnert ein wenig an den Turnunterricht von früher.
Nachdem wir zehn Minuten lang unsere Glieder gestreckt und unsere Muskeln gelockert haben, machen wir uns zu etwas auf, das eine Grenzerfahrung werden könnte. Letztlich aber beschließen wir, die Klamotten nicht ganz abzulegen und ein Ganzkörperbad zu nehmen, sondern nur die Jeans hochzukrempeln und bis zu den Knien ins Wasser zu gehen. Auch das aber bringt die Durchblutung ordentlich auf Trab.
Auf einen Tee in die Hafenkneipe
Nach dem kalten Fußbad beschließen wir, die örtliche Folklore auf eine andere Weise kennenzulernen. Wir besuchen das Dattein, eine Kneipe, die das Seemannsleben auf sympathische Weise kultiviert. Untergebracht ist sie in einem mehr als 300 Jahre alten Haus direkt am Hafen, das mit einem Schwimmdach ausgestattet ist. Dies bedeutet konkret, dass Bewohner und Gäste im Falle einer Sturmflut von innen hinaufkönnen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Tische im Dattein sind auch in der Nebensaison gut besetzt. Einige Gäste trinken dunkles Bier, doch wir entscheiden uns für das ostfriesische Nationalgetränk: eine Kanne Tee. 300 Liter des Gebräus trinkt jeder Ostfriese pro Jahr im Schnitt. Mehr als Chinesen, Japaner oder Briten. Ein erstaunlicher Weltrekord, der ebenfalls von Beschaulichkeit und Ruhe kündet. Dazu gönnen wir uns Nordseekrabben mit Schwarzbrot. Eine traditionelle Spezialität der Region, die wegen abnehmender Bestände zunehmend in Gefahr gerät.
Thalasso-Therapie in Neuharlingersiel: Einladende Stille
Es ist noch früh am Abend, als wir zum Abschluss des Tages einmal das Hafenbecken umkreisen. Bald aber gehen wir ins Bett. Zu einladend ist die Stille, die über Neuharlingersiel liegt, als wollte sie gemeinsam mit dem Nebel eine bleierne Schwere erzeugen, die den Körper zu Ruhe verurteilt.
Nach einer langen Nacht mit tiefem Schlaf machen wir uns auf, die nächste Erholungsstufe zu erklimmen. Hierzu suchen wir das Badewerk auf, das sich weithin sichtbar hinter dem Deich ausbreitet. Es ist neben dem idyllischen Hafenbecken und dem Wattenmeer die Hauptattraktion des kleinen Küstenortes, der um die 1.000 Einwohner zählt.
Spezialität der Wellness-Einrichtung ist die Thalasso-Therapie. Wie der altgriechische Name andeutet, setzt diese auf die heilende Kraft des Meeres, oder in diesem Fall des Wattenmeeres. Wir haben einen ganzen Tag im Badewerk gebucht, das unter anderem mit einem Meerwasserschwimmbecken und einer vielseitigen Saunalandschaft lockt. Mit 25 Euro fallen die Kosten für das Ticket erstaunlich günstig aus. So gibt das Budget auch noch eine Massage her.
Schwerelosigkeit im Schlickbad
Konkret haben wir uns sogar eine Doppelbehandlung ausgesucht. Hierzu betreten wir die medizinische Abteilung des Badewerks, wo eine mit Schlick aus dem Wattenmeer gefüllt Wanne auf uns wartet. Gut 20 Minuten tauchen wir in die warme Melasse ein, die ein Gefühl von Tiefenentspannung und Schwerelosigkeit vermittelt. Nach einer kurzen Pause im Ruheraum folgt Teil zwei der Behandlung. Diesmal nehmen wir auf einer Massagebank Platz, wo sich zwei Ostfriesinnen unseren bereits nicht mehr ganz so verspannten Rückenpartien annehmen.
Danach geht es zurück ins Badewerk. Mal schwitzen wir dort in einer Sauna, dann wieder setzen wir unsere Körper den kühlen Außentemperaturen aus. Immer mal wieder machen wir ein Nickerchen im Ruheraum, oder wir ziehen ein paar Bahnen im Meerwasserbad. Ehe wir uns versehen, nimmt das Tageslicht draußen bereits wieder ab. So ein Tag geht schnell vorüber, ganz ohne Mobiltelefon.
Ein kräftiges »Moin«
Gelassenheit ist Trumpf hier an der Nordseeküste. Nicht umsonst grüßen die Einheimischen hier den ganzen Tag über mit einem kräftigen »Moin«, ganz so als wären sie losgelöst von der Zeit. Als wir am Abend das Restaurant in Janssens Hotel betreten, haben wir uns bereits daran gewöhnt. Wir bestellen »Scholle nach Finkenwerder Art«, also mit knusprigem Speck, Bratkartoffeln und knackigem Salat. Eine köstliche Spezialität aus dem hohen Norden.
Am nächsten Morgen haben wir uns für eine Expedition ins Wattenmeer angemeldet. Gegen 10 Uhr hat sich das Wasser weit zurückgezogen. Man könnte jetzt ins acht Kilometer entfernte Spiekeroog laufen, wenn nicht in einem für die Schifffahrt ausgehobenen Priel immer Wasser stehen würde. So ist eine Wattwanderung theoretisch nur zur Nachbarinsel Langeoog möglich – für trainierte Menschen in Begleitung eines erfahrenen Guides.
Wattwanderung als großes Finale
Wir begnügen uns mit zwei Stunden vor der Küste, wo uns der Biologe Bernd Koopmann zur Seite steht. Als Mann aus der Region hat er von Kinderbeinen an viel Zeit im Watt verbracht. Er sagt:
Wer hier lebt, muss entweder bescheuert sein oder sehr gut angepasst. Und wer bescheuert ist, lebt nicht sehr lange.
Damit möchte er zum Ausdruck bringen, wie ungeheuer vielseitig Flora und Fauna dieses besonderen Lebensraums sind. Obwohl wir nur ein paar Muscheln sehen. »Mehr als ein Viertel aller Tierarten und mehr als ein Fünftel als Pflanzenarten Deutschlands sind hier zu Hause«, so Koopmann. Entsprechend erfreut war er, als die Unesco das Wattenmeer 2009 zum Weltnaturerbe erklärt hat. In rascher Abfolge macht uns der Naturwissenschaftler mit Wattwurm, Muschelarten und diversen Algen vertraut.
Gegen Ende der Exkursion zeigen sich erste Risse am Himmel. Am Horizont sind nun auch die Umrisse von Spiekeroog zu erkennen. Und als wir uns dem kleinen Hafenbecken nähern, kann sich die Sonne tatsächlich durchsetzen. Sie wirft ein sanftes Licht auf die Fischerboote und die dahinter aufgereihten Häuser. Viel beschaulicher kann es nicht werden. Gut also, dass wir noch einen Tag an der Küste haben. Ganz ohne Termine.